Eines der zentralsten Themen in unserem Leben ist wohl, wie wir mit all unseren Erfahrungen umgehen. Was wir daraus lernen und ob wir die Erfahrungen, gleichgültig welcher Art sie auch waren, als unseren Lebensschatz annehmen können oder ob wir in den alten Erfahrungen, wie eingefroren, stecken bleiben, indem wir sie immer und immer wiederholen. Die meisten Menschen sind Sammler, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass wir uns nur schwer von einmal Gesammeltem trennen können. Wir halten an Materie wie an Emotionen fest und fühlen uns dadurch sicher.
Tief verbunden mit der Energie des Loslassens ist die Kraft des Festhaltens und die meist unbewussten Verlustängste, die wir in uns tragen. So viele Menschen wie es gibt, so viele unterschiedliche Erfahrungen in Bezug auf Mangel gibt es. Aus dem Mangel aber entsteht letztendlich die Energie der Anhaftung, die wiederum dazu führt, dass wir viel zu viel um uns herum horten und Altes, Überholtes nicht gehen lassen können.
Wenn wir in unserem Leben immer wieder mit dem Mangel konfrontiert werden, entsteht daraus eine unbewusste Angst davor, und wir beginnen, in den Zeiten der Fülle vorzusorgen und uns ein kleines Lager anzulegen, nur für den Fall, dass der Mangel in unserem Leben wieder auftaucht. Das nächste Mal soll er uns nicht unvorbereitet treffen. Aus dem kleinen Lager aber wird meistens eine große Ansammlung.
Wir legen die Erfahrungen, die wir gemacht haben, häufig auf alle unsere Lebenssituationen um. Haben wir Liebesmangel erfahren, so kann daraus auch eine Sammelsucht von materiellen Dingen entstehen, oder eine klammernde Energie in der Partnerschaft, haben wir einen Mangel an Nahrung oder Bekleidung, an Wertschätzung oder Anerkennung erlebt, so sind wir selbst vielleicht anhaftend und besitzergreifend geworden. Wir neigen dazu, in diesem Mangelerlebnis unbewusst stecken zu bleiben, und sehen immer nur bei den Mitmenschen die vollen Teller.
Meistens spielt sich die Auswirkung unserer Mangelerfahrung und die daraus resultierende Lebenshaltung sehr tief in unserem Inneren ab. Nur ab und zu, wenn der Leidensdruck zu groß wird, erinnern wir uns wieder daran, warum wir Angst vor dem Loslassen haben, und können dennoch diese Angst davor, was wohl geschieht, wenn wir loslassen, nicht loslassen.
Da sind wir genau bei einem der springenden Punkte: unserer Angst.
Es ist so leicht gesagt, und der Rat „Dann musst du eben loslassen!“ kommt sehr häufig auch über unsere eigenen Lippen. Gesagt sehr leicht, aber wie sich das Loslassen gestalten soll, ist die große Unbekannte. Fällt es uns bei materiellen Dingen manchmal noch leichter mit dem Loslassen, so sind unsere emotionalen vergangenen Erlebnisse unsagbar schwieriger und anhänglicher. Wir haben förmlich Angst davor, nichts und niemand mehr zu sein, wenn wir unsere Vergangenheit und die damit in Verbindung stehenden emotionalen Erlebnisse auf einmal loslassen sollen.
Wer bin ich ohne meinen Kummer, ohne meinen Schmerz, ohne mein gebrochenes Herz, ja ohne all meine Ausflüchte und Ausreden, warum ich in meinem Leben nicht vorwärtskomme, weil doch die Menschen in meiner Vergangenheit so böse mit mir waren und mich für immer behindern ... an meiner Entwicklung und an meinem Fortschritt. Es macht nicht wirklich Sinn, der Vergangenheit Schuld zu geben, wenn wir nicht vorwärtskommen. Es gibt genügend Menschen, die uns schon bewiesen haben, dass uns nichts von unseren Lebensträumen abhalten kann, außer wir selbst und unser Festhalten an unserer Vergangenheit.
So viel schon einmal vorweg: Es gibt kein großes Geheimrezept und auch keine ultimative Übung für das Loslassen und auch nicht für die damit in Verbindung stehende Angst. Alles, was ich Ihnen anbieten kann, ist die tägliche Praxis des Übens, denn das ist das einzige Mittel, welches sich bewährt hat und auch zu einem fruchtbaren Ergebnis führt. So wie wir immer wieder unsere Lebensräume von altem Ballast und von Schmutz reinigen, so sollten wir es auch mit unseren Emotionen und unseren Gedanken tun.
Nun ja, "täglich üben" klingt nicht sonderlich attraktiv und lässt uns deshalb meistens diesen Weg schon einmal ausschließen ...
Ich kann nur aus meiner Erfahrung sagen, auch ich wollte einen schnelleren Weg einschlagen, um schlussendlich zu erfahren, dass mich die Angst vor dem Loslassen immer im ungünstigsten Moment eingeholt und an meinem Fortschritt behindert hat.
Erst als ich bereit war, genauer hinzusehen, warum ich sammelte (und ich spreche hier nicht nur von materiellen Dingen, sondern in erster Linie von alten emotionalen Erlebnissen, die ich wie einen Schatz in mir gehortet hatte, um diese Erlebnisse immer dann, wenn ich einer ähnlichen Situation begegnete, flugs hervorzukramen und sie als meinen Maßstab anzuwenden), erst mit diesem tatsächlichen Erkennen, was mein persönlicher Nutzen am Festhalten war, konnte ich mich auf den Prozess des Loslassens einstimmen. Es war mir zuvor nicht bewusst, dass ich mir durch mein Festhalten an alten emotionalen Verletzungen vieles verbaute, denn ich reagierte immer nach den alten eingefahrenen Prinzipien und hatte Angst davor, mich davon zu befreien, Angst vor dem Neuen und damit mir Unbekanntem.
Was ist Ihr Nutzen aus dem Festhalten an der Vergangenheit?
Dann sah ich den Film Asterix und Obelix - während des Zusehens viel es mir wie Schuppen von den Augen, ich erkannte, dass ich so, wie Obelix seinen Hinkelstein herumträgt, der ja für gar nichts gut ist, meine alten Ereignisse und Konditionierungen wie in einem schweren Sack auf meinem Rücken herumtrug. Auch dieser Rucksack ist weder zweckdienlich, noch ist es einfach, seine Last durch den Alltag zu schleppen, vor allen Dingen aber: er füllt sich immer mehr und wird immer schwerer.
Ich erkannte, das ich zwar durch unterschiedliche Übungen immer wieder diesen Sack abstellte, um jedoch nach einigen Schritten in Freiheit das Gefühl in mir zu verspüren, dass ich etwas vermisste. In diesem Augenblick beschlich mich sogar die Angst vor der Freiheit und vor der ungewohnten Leichtigkeit des Seins ... keine Altlast mehr? Das kann ja gar nicht sein ... also drehte ich mich um, nahm meinen, mir so vertrauten, alten Sack wieder auf meinen Rücken und fühlte mich gleich wieder wohler und vor allem sicherer.
Ich musste während des Films sehr über mich selbst lachen und beschloss, mir den Inhalt meines „Hinkelsteins“ einmal näher anzusehen. Ich begann nun, Ereignis um Ereignis aus meinem Sack zu holen, und betrachtete die emotionalen Erlebnisse einmal als neutraler Zuseher. Ich erkannte, welch unsagbarer Schatz in jeder einzelnen Erfahrung verborgen lag und wie sehr die alten Ereignisse meine jetzige Stärke, ja mein gesamtes Sein ausmachten.
Ich bedankte mich bei allen Beteiligten an meinem Lebensspiel, und ich integrierte die Erlebnisse in mein Leben als etwas unendlich Kostbares. In dem Augenblick, als ich die Erfahrungen, und zwar wirklich alle, auch die schmerzhaften, als meinen Schatz integrierte, konnte ich sie so sein lassen, wie sie waren und auch da, wo sie geschehen waren, nämlich in der Vergangenheit. Mit jeder Lösung und Integration fühlte ich mich leichter. Das Verstehen, dass ich das Erlebte nicht verändern kann, aber sehr wohl, wie ich damit umgehe, brachte mir die Erlösung. Ich entschied mich bewusst dafür, die alten emotionalen Schmerzen nicht wieder vor mich, in meine Zukunft, zu stellen, sondern hörte auf damit, über diese Ereignisse bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu sprechen oder an sie zu denken.
Ich konnte nämlich nur verändern, wie ich sie sah und wie ich jetzt und in Zukunft damit umgehen wollte, und nicht, dass sie ein Teil meines Lebens sind.
Alles, was ich wirklich aus tiefstem Herzen in meiner Vergangenheit lassen wollte, gelang auch; aber alles, an dem noch ein Fünkchen Hoffnung hing, dass sich ja die Vergangenheit verändern könnte und vielleicht eine längst verflossene Liebe wiederaufflammen könnte, wurde nicht losgelassen, sondern war weiterhin als belastende Hoffnung in meinem Feld.
Loslassen heißt tatsächlich den Griff lösen, die Hand öffnen und es loslassen, alles, woran auch immer wir festhalten, gehen lassen, im Vertrauen darauf, dass das der einzig richtige Schritt ist und wir danach freier und im Fluss des Lebens sind. Offen für das Leben mit all seinen Schätzen und Möglichkeiten, nicht angebunden an alte Hoffnungen und verstaubte Gedankengänge.
Solange wir nicht bereit sind, tatsächlich alle noch so kleinen Erklärungen, warum wir etwas festhalten müssen, in die Klarheit zu bringen, solange wir immer noch einen Funken Hoffnung an die alten überholten Energien binden, haben wir keine Möglichkeit, wirklich loszulassen. Mit der Energie des Loslassens aber kommen innerer Friede und Freiheit, der Raum für Neues in unserem Leben öffnet sich. Wir fühlen uns lebendig, aktiv, und unsere kreativen Kräfte können ungehindert fließen.
Eines der größten Geschenke des Loslassens aber ist die Befreiung aus der Angst vor dem Mangel. Wir erkennen, dass wir immer genügend Fülle um uns haben und dass wir letztendlich nie alleine sind.
Jeden Tag sind wir aufgefordert, die Kraft des Loslassens zu üben, diese Kraft zu vervollkommnen bis zum allerletzten Loslassen, das mit unserem letzten Atemzug geschieht, wenn wir dieses Leben loslassen.
Je leichter uns das Loslassen gelingt, umso reicher gestaltet sich unser Leben. Die Erfahrungen dürfen als innerer Schatz ein Teil unseres Lebens sein, aber die emotionale Verhaftung daran darf sich befreien.
Ich wünsche Ihnen viele wundervolle Momente der Befreiung!
Ihre Barbara Heider-Rauter